Die große Mauer der Vernunft
Am westlichen Ende der großen chinesischen Mauer verengt sich die Bergkette gleich einem Nadelöhr. Will man in diesen Korridor hinein, muss man durch das Tor der Festung am Jiayu-Pass. Im Anschluss an die große Mauer ist die Passenge durch Berge völlig abgesperrt. Möchte jemand in das Reich der Mitte einreisen, ist er gezwungen am großen Festungs-Tor anzuklopfen und zu warten, bis die Papiere überprüft und man eingelassen werden kann. Dazu müssen die Soldaten mehrere Tore nacheinander öffnen und den Weg freigeben. Diese Grenzmaßnahmen sind den feindlichen Feldherren aus dem Norden bisher ein unüberwindliches Hindernis. Deshalb schicken sie regelmäßig Kundschafter und Spione aus, um herauszufinden, ob es irgendwo an der Grenze Schwachstellen gäbe.
Als die Spione dieses Mal zurückkehrten, hatten sie Interessantes zu berichten:
Es gäbe im Nord-Westen eine geeignete Stelle, die einen Durchbruch in das Reich der Mitte zuließe. Man habe nämlich an einem Stück der großen Mauer, die Lehmmauern eines verlassenen Bergklosters miteingebunden. Der alte weiche Lehm könne leicht durchbrochen werden und außerdem würde dort ein Angriff durch den Sichtschutz einiger Felsen begünstigt. Leider gäbe es an diesem Punkt aber noch ein anderes Problem. Zwar lebten dort keine Mönche mehr, aber direkt hinter der Lehmmauer läge der noch vollständig erhaltene Klostergarten, ein Heiligtum mit sehr alten Päonien. Der Ort sei den großen Göttern der Berge gewidmet. Deshalb würde der Päonien Garten auch regelmäßig von Mönchen aus den Nachbarklöstern besucht und gepflegt. Man frage sich, ob es ein gutes Omen sei, einen Durchbruch an dieser Stelle zu wagen, den Garten niederzutrampeln und so einen Krieg zu beginnen.
Nachdem die Befehlshaber diesen Bericht gehört hatten, beratschlagten sie sehr lange und kamen durch die Vernunft des Herzens zu dem Schluss, den heiligen Frieden des Klostergartens nicht zu stören und eine andere Gelegenheit abzuwarten, um einen Krieg führen zu können ohne die Götter zu erzürnen.
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