Die kluge Prinzessin
Die kluge Prinzessin war nicht nur klug, sondern auch außergewöhnlich schön, und sie war die einzige Tochter des Kaisers von China. Der Kaiser liebte sie über alles. Als es wieder Frühling wurde, sollte die Prinzessin endlich verheiratet werden. Die Auswahl dürfte ihr nicht schwer fallen, dachte der Vater. Viele standesgemäße Bewerber zeigten schon lange besonderes Interesse an seiner Tochter. Die Jünglinge versuchten sich gegenseitig zu übertreffen, trugen die teuersten Gewänder und erzählten der Prinzessin stolz von großen Reichtümern.
Trotzdem gefiel ihr keiner von ihnen. Es gab aber einen, den sie mehr als nur mochte, mit dem sie schon als Kind im Palastgarten gespielt hatte. Dass auch er sie über alles liebte, fühlte sie. Leider kam eine Heirat nicht in Frage, da er nur der Sohn des Gärtners war.
Deshalb ersann die Prinzessin eine List. Sie ging zum Vater und überredete ihn eine Aufgabe stellen zu dürfen, weil sie sich unter den vielen Bewerbern nicht entscheiden könne. Sie hätte zwar Einblick in deren Reichtum, aber nicht in deren Klugheit und Großzügigkeit bekommen. Der Kaiser wollte wissen, was sich die Tochter ausgedacht hatte und war damit einverstanden.
Danach dürfe derjenige, unabhängig von seiner Herkunft, die Prinzessin heiraten, der einen wundervollen Schatz besäße, welcher viele Generationen überdauern könne. Diesen Schatz solle er herbeischaffen und vor den sieben Palasttoren an die Bettler dort verschenken. Dies müsse in folgender Weise geschehen: Die Hälfte und einen zusätzlichen Teil des Schatzes solle vor dem ersten Tor verteilt werden. Von der Hälfte des Verbliebenen und einem zusätzlichen Teil müsse er sich am zweiten Palasttor trennen und dies in gleicher Weise an den restlichen fünf Toren. Der Erste von ihnen würde danach zur Prinzessin vorgelassen und von ihr das Ja-Wort erhalten, aber nur dann, wenn er trotzdem noch einen ungeteilten Schatz überreichen könne.
Dies wurde überall verkündet, auch in den Nachbarländern. Viele der bereits eingetroffenen Bewerber waren zunächst erfreut, da sie sich für reich genug hielten, die Aufgabe erfüllen zu können. Sie verstanden aber nicht, warum sie etwas von ihren Schätzen verschenken sollten. Einige erklärten die Aufgabe für töricht. Andere meinten, sie sei nicht lösbar, und dass die Prinzessin auf diese Weise als Jungfer alt werden müsse. Deshalb ritt einer nach dem anderen enttäuscht oder wütend wieder nach Hause.
Nur ein einziger Jüngling mit einfacher Kleidung und einer großen Rückentrage begab sich vor das erste Palasttor und verschenkte dort Blumen. Zuerst gab er eine einzelne Blume einer Bettlerin. Danach verteilte er die Hälfte des Blüteninhalts seiner Trage an die Umherstehenden. Es waren keine gewöhnlichen Blumen, sondern edle Blüten von seltenen Päonien Sträuchern hoch oben aus den Bergen. Die Beschenkten taten verwundert. Etwas zu essen oder Geld wäre ihnen zunächst lieber gewesen, dann aber freuten sich über die schneeweißen Blüten mit dem tintenschwarzen Fleck in der Mitte. Noch nie hatte ihnen jemand etwas so Schönes gegeben. Vor dem zweiten Tor verteilte der Jüngling wiederum mehr als die Hälfte seiner Päonien Blüten aus der großen Rückentrage und merkte , dass die einfachen Leute besonderen Gefallen am herrlichen Duft der schönen Blumen fanden. Das Verschenken wiederholte sich in der geforderten Weise ebenfalls vor den fünf weiteren Palasttoren. Erst danach wurde der Jüngling zur Prinzessin vorgelassen. Dort entnahm er der Rückentrage, die letzte der noch verbliebenen wunderschönen Blüten.
Diese konnte er der Prinzessin als seinen ungeteilten Schatz überreichen. Es war das Schönste und wunderbarste, was er für seine geliebte Freundin finden konnte und in hundertfacher Weise gesammelt hatte Die Prinzessin war vom Anblick der Blume so gerührt, dass sie unter Tränen ihren Liebsten umarmte. Der Kaiser wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte sich den Schatz anders vorgestellt. Beim genauen Betrachten der schneeweißen samtartigen Blüte mit dem schwarzen Fleck aber, verliebte er sich sogleich in die Schönheit und den Duft dieser Blume. So sehr, dass ein entsprechender Päonien Strauch später aus den Bergen in den Palastgarten verpflanzt werden musste und den chinesischen Namen „schwarze Lacktinte auf schneeweiß glänzender Seide“ erhielt und als Blüte ins Staatswappen aufgenommen. wurde. Das Wichtigste aber war natürlich, dass der Gärtnersohn die Prinzessin heiraten durfte.
Falls nun jemand meint, dass sei alles nur ein Märchen, der bedenke, dass die Strauchpäonie mit den wunderschönen weißen Blüten und dem exotisch wirkenden Fleck, nicht nur alle chinesischen Kaiser überdauert hat, sondern auch bis in die heutige Zeit unverändert schön, robust und wertvoll geblieben ist. Unter dem Namen ihres europäischen Entdeckers „Rockii-Strauch- oder Baumpäonie“, ist dieser wunderbare Schatz auch in europäischen Gärten mittlerweile zu finden.
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